Astro Twin - Musik für Steckverbindung und Stimmakrobatik
Produkt des Monats November 2003
Stille. Dann grillenartige Geräusche. Netzbrummen. Stille. Kracksen einer nicht ganz eingeklinkten Steckverbindung, ein Synthesizerton einfachster Synthese, unbeschreibliche Geräusche aus Hals, Mundraum, Handtrichter. Stille. Kracks, Ton. Ami Yoshida steht konzentriert vor dem Mikrofon, Utah Kawasaki wackelt am Netzstecker seines modularen Antik-Synths. Mehr nicht, aber auch nicht weniger.
Eine auch im engeren Wortsinn unbeschreibliche Musik, denn was sich in der Beschreibung nach „hoffentlich ist das schnell vorbei“ anhört, ist tatsächlich faszinierend. Und wenn es nicht schon die Jury des Linzer Prix Ars Electronica nach der ersten Hörprobe der Astro Twins formuliert hätte, würde es hier genauso gesagt werden müssen: Es gab „...so etwas wie einen Knackpunkt, der den Raum und die Athmosphäre zu verändern und gleichzeitig den Brennpunkt unserer Aufmerksamkeit zu verschieben schien. Und solche Momente blieben in unserem Gedächtnis haften ...“
Das muss ZEN sein! Und wie beim interessierten Beobachter setzte auch bei den Jury Mitgliedern der Verstand kurzzeitig aus und sie verliehen den ersten Preis des renommiertesten und traditionsreichsten europäischen Computerkunstfestivals in der Kategorie „digital musics“ an analog arbeitende Künstler, die mit analogen akustisch-elektrisch-elektronischen Mitteln analoge Geräusche produzieren.
Völlig zurecht, da das Etikett 'digital’, wenn es allein auf die Technik der Arbeitsgeräte von Musikern bezogen wird, als Kategorie kaum mehr taugt. Dann hätte man den Preis auch gleich im Land lassen und an die Simulation des Volkstümlichen bei Hansi Hinterseer und Co. vergeben können, die digitaltechnisch auf höchstem Niveau stattfindet und ohne Zweifel eine gewisse Meisterschaft erreicht hat. ZENmäßig erleuchtet tat die Jury indessen mit dieser mutigen Entscheidung genau das Richtige, dachte analog-digital ...egal und holte diese Leute (neben den beiden erwähnten noch Sachiko M, die mit Ami das Duo „Cosmos“ bildet) aus der jungen japanischen Experimentalszene nach Europa. Damit spielt der Linzer Prix nach Jahren verpaßter Entwicklungen in der Club- und Dancesektion der elektronischen Musik endlich wieder einmal Trendsetter und macht den Europäern sonst wohl nie Gehörtes zugänglich.
Die unglaubliche Intensität, die von der Musik der „Astro Twin“ ausgeht, kann allerdings durchaus mit rationalen Erklärungsmustern gedeutet werden. Leute, die den Klangzirkus der unendlichen Effektpaletten bei gleichzeitiger totaler Kontrolle der digital verflüssigten Audiosignale leid sind und sich bisher bei vereinzelten Clicks und Cuts mit moderaten Rhythmen erholt haben, finden hier die Wiedergeburt der Musik aus der akustisch-elektronischen Stille. Musik kehrt bei Astro Twin an ihren Ursprung zurück, sie ist nichts als gestaltete, inszenierte, in der Stille gefeierte Zeit. Statt perfekt ausgeführter Programme ist alles vollständig improvisiert, die Mittel sind rigoros beschränkt. Gleichzeitig herrscht höchste improvisatorische Disziplin, die keine oberflächliche Expressivität und die extrovertierte Schau persönlicher Befindlichkeit zuläßt.
Die Vertrautheit und Einfühlung in die Instrumente Stimme und Synthesizer sind von geradezu außereuropäischer Hingabe geprägt. Utah Kawasaki hat - wie er beim Künstlergespräch des ORF sagt - nie etwas anderes besessen und gespielt als diesen kleinen analogen modularen Steckfeld-Synthesizer, dessen klangliche Bandbreite jedem Freeware-Softsynth unterlegen scheint und der nicht einmal über eine übliche Klaviatur verfügt. Klang-Gimmicks und elaborierte Syntheseformen sind so von vornherein ausgeschlossen. Es bleibt die einfache subtraktive Klangsynthese und der Klang des Steckfelds selbst, das Werden des Klangs durch das Verbinden der Stecker bis hin zur Unterbrechung der Stromversorgung wird ästhetisches Thema.
Was dieses Konzept von der Fehlerästhetik der etablierteren 'Soundculture’-Kollegen unterscheidet, ist erstens die Gestaltung der Zeit: Klangereignisse treten weder maschinell gesteuert noch in herkömmlicher Metrik auf. Dennoch ist die Spannung einer inneren zeitlichen Logik der neben- und miteinander improvisierenden Akteure ständig spürbar. Der zweite Unterschied ist Ami Yoshidas Stimme. In der Verschmelzung akustischer Klangerzeugung und elektronischer Verstärkung (teilweise ergänzt durch digitale Transformation, die allerdings nicht essentiell für das Ergebnis zu sein scheint), die ein wenig an frühe Experimente Laurie Andersons erinnert, wird etwas erreicht, was man sich üblicherweise von der Klangsynthese erhofft: bisher ungehörte Klänge bzw. Geräusche. Und das kommt nun mit der Direktheit und Unmittelbarkeit einer menschlichen Stimme daher und verwebt sich mit den elementaren Klängen des technischen Geräts 'Synthesizer’.
Ein Wermutstropfen bleibt: Astro Twin ist leider kein Produkt, das man in Europa kaufen kann. Eine Klangprobe enthält die zum Prix Ars Electronica 2003 erschienene Audio-CD. Ohnehin sollte man beim nächsten Japan-Besuch die Live-Performance der Astros jeder CD- oder MP3-Konserve vorziehen. Vielleicht gibt es in der japanischen Szene auch noch einges mehr zu entdecken ...
Bild: ORF / Prix Ars Electronica 2003