Linux Audio
Produkt des Monats Dezember 2004
Freie Software allgemein und Linux als Betriebssystem im speziellen sind weltweit dabei, eine Gegenposition zu proprietären Plattformen und Standards aufzubauen. Moralisch/ethische Gründe zur Unterstützung dieser Bewegung lassen sich vor allem in der Sicherung der Selbstbestimmung in der Informationstechnik und dem freien Zugang zu Wissen als Kulturgut finden. Nachdem zehntausende Serveradministratoren, öffentliche Verwaltungen und ganze Nationen den Umstieg auf Freie Software planen oder bereits vollzogen haben, fragt sich auch der geneigte Computermusiker, ob es nicht an der Zeit für einen Systemwechsel ist. Schließlich ist eine komplette professionelle Audio-Softwareausstattung für Windows oder Mac OS X inklusive Betriebssystem kaum für unter 1200€ zu haben. Da lockt die Idee der "freien" Software doch.
Voraussetzung für den Umstieg ist natürlich das Vorhandensein von adäquaten Programmen in der Linux-Welt, die es dem Musiker erlauben, ohne große Hürden seine Kreativität auf gleichem professionellen Niveau auf Speichermedien zu verewigen.
Linux hat in der Tat bereits jetzt einige Programme zu bieten, die sich in der nahen Zukunft zu wahren Killer-Applikationen entwickeln könnten. An erster Stelle muss hier Ardour genannt werden, eine Digital Audio Workstation (Audiosequenzer) nach dem Vorbild von ProTools, die demnächst - hoffentlich - mit MIDI-Implementation vervollständigt wird. Das ausgesprochen gute Handling und die Kompatibilität mit Steuergeräten via Machine Control sprechen für den Einsatz in einem professionellen Studio-Umfeld. Als Ergänzung zu Ardour sollte JAMin gesehen werden, eine Mastering-Suite mit Multibandkompressor, Limiter und Equalizer, die auch als Plugin direkt in Ardour geladen werden kann.
Als MIDI-Sequenzer stechen bislang nur MUSE und Rosegarden heraus. Beide können sich nicht wirklich mit modernen Produktionsumgebungen wie Logic oder Cubase messen, allerdings erinnert MUSE stark an frühere Cubase-Versionen und macht so zumindest den Umstieg leichter.
Der Platzhirsch unter den Software-Synthesizern für Linux ist der Alsa Modular Synthesizer, ein vollwertiges Modularsystem nach klassischem (Moog-)Vorbild, geschrieben von Suse-Mitarbeiter und Modular-Fan Mathias Nagorni, der auf seinem Synthesizer am liebsten Bach spielt. Der Alsa Modular klingt aber auch jenseits der bereits beschrittenen Pfade einfach großartig und könnte als eigenständiges Instrument bereits die Daseinsberechtigung für einen dedizierten Linux-Rechner im Studio darstellen.
Die Audio-Infrastruktur von Linux kann nur als höchst progressiv bezeichnet werden. Alle (neueren) Audioprogramme bieten ihre Ein- und Ausgänge einem auf dem Computer laufenden Audioserver (namens Jack) an. In der Jack-Patchbay können nun verschiedene Programme miteinander verbunden und die vorhandenen Hardware-Ports angesprochen werden. Darüber hinaus steht ein Software-Mixer samt EQ zur Verfügung. Das System ist potentiell wesentlich flexibler als der Rewire-Ansatz unter Windows. Auch werden inzwischen die gängigsten PCI-Soundkarten problemlos erkannt, das ALSA-Projekt hat hier in den letzten zwei Jahren viel Arbeit geleistet.
Das zweite Standbein der Infrastruktur ist die LADSPA (Linux Audio Developer's Simple Plugin API) Schnittstelle. Das Vorhandensein einer systemweiten Plugin-Schnittstelle, für die eine große Auswahl qualitativ hochwertiger Spezialitäten von diversen Drittanbietern zur Verfügung steht, darf mit Hinblick auf die VST-Erfolgsstory unter Windows wohl als entscheidendes Kriterium für Erfolg oder Misserfolg von Linux als Audio-Betriebssystem gesehen werden. Die schnelle Akzeptanz der Audio Units-Schnittstelle, die mit Mac OS X eingeführt wurde, lässt aber hoffen. Außerdem gibt es schon erste Erfolge, Windows-VST-Plugins unter Linux zum Laufen zu bringen. Bis jetzt hat LADSPA aber noch nicht das Zeug zu einem Migrations-Argument, denn es fehlt noch an Plugins für die Schnittstelle.
Die Programmierung von DSP-Anwendungen und interaktiver Audio-Software kann - wie auch unter Mac OS X, Windows, IRIX und UNIX - mit Pure Data geschehen, einem Derivat der Max-Software-Familie und ebenfalls von Miller Puckette (damals IRCAM, heute USCSD) entwickelt.
Linux als Audio-Plattform ist noch im Entwicklungsstadium. Der generelle Vorteil von Freier Software, dass Entwicklungsschritte durch Beteiligung vieler Experten und offener Standards mitunter schneller bewältigt werden, offenbart sich an einigen Beispielen, aber leider bei weitem nicht immer. Somit bleibt nur zu sagen, dass Linux (erst oder schon) kurz davor ist, auch im Studio proprietäre Systeme wirklich ersetzen zu können. Jedem Computermusiker sei geraten, Linux auszuprobieren. Mit Agnula existiert eine Multimedia-Distribution, die bereits alle wichtige Audiosoftware enthält und die schon "out of the box" niedrigste Latenzen schafft. Zum Testen benutzt man am besten eine Live-CD, mit der sich Linux booten lässt, ohne dass ein bestehendes (Windows-)System angetastet wird. Eine solche CD bieten auch die anderen Linux-Distributionen an, empfehlenswert sind - gerade für Einsteiger - die Suse-AG (hier gibt es auch demnächst eine eigene Audio-Live-CD) und Fedora-Distributionen.
Die Linux Audio Developers Community hat bereits viel geschafft. Auch wenn Linux von einer universellen professionellen Musik-Produktionsumgebung noch einen Schritt entfernt ist, können sich einzelne Produkte schon mit der obersten Liga der Windows- oder Mac OS X-Software messen. Somit bleibt die Zuversicht, dass auch wir Computermusiker dazu beitragen können, dem Streben einiger US-amerikanischer Firmen nach Weltmacht ein großes X durch die Rechnung zu machen.