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Frank Ocean – channel ORANGE

Produkt des Monats November 2012

von Wenzel Burmeier

Los Angeles. Die Sonne scheint, die Luft steht. Frank Ocean liegt in der Mitte seines Zimmers. Es ist verwüstet, alles durcheinander. Er denkt an ihn, verdrückt sich ein paar Tränen. Ein Wirbelsturm hat Frank heimgesucht, sein ganz persönlicher Hurricane Katrina. Er denkt an ihn, an seine erste große Liebe mit 19 Jahren, die auf tragische Weise unerwidert blieb. Er vergießt nicht nur ein paar Tränen, er fängt regelrecht an zu flennen. Aber liebt er ihn denn wirklich? Nein, eigentlich fand er ihn nur ganz nett... Und doch, er liegt auf dem Boden und muss wieder an ihn denken. Und an die Ewigkeit. Liebe altert nicht, stellt er fest. In seiner Seele wird er das Gefühl für immer festhalten.

Was sich als Anfang eines klassischen Hollywood-Dramas ankündigt, leitet Frank Oceans Album channel ORANGE ein. Es handelt sich um das Major-Debüt des gebürtigen New Orleanser Sängers aus dem Odd Future-Kollektiv. Das Album-Debüt eines Def Jam-Signings, der als Songschreiber bereits für Arien von Beyoncé, Brandy und der Teenie-Droge Justin Bieber zur Verantwortung zu ziehen ist. Und ja, es handelt sich bei seinem Debüt auch um eine aktuelle R’n’B-Platte. R’n’B, ein schwieriger Begriff. Ein Genre, das gerade in gehobenen Musikkreisen auf relativ wenig Akzeptanz treffen dürfte. Natürlich gab es mal diesen Vorgänger von Rock’n’Roll namens Rhythm & Blues, aber in der Regel verbindet man mit den drei Buchstaben doch eher diese fiese Fusion aus Soul, Pop und HipHop, die in den 90er Jahren unter Soul-Freunden und Rap-Heads gleichermaßen verschmäht wurde. Wer in den Archiven der Maxi-CDs wühlt, findet durchaus die ein oder andere Produktions-Perle. Man erinnere sich an Ginuwines "Pony", eine Timbaland-Produktion, der es wahrlich nicht an Innovation fehlte – immerhin fährt er mit einer Mixtur aus Drum & Bass-Rhythmen, durch den Vocoder gejagten Vocal-Samples und Cartoon-Geräuschen auf. Nur den Witz in den Lyrics sucht man bei dieser großen Produktion leider vergebens: "If you're horny, let's do it / Ride it, my pony", simple as that. Nicht mal einen Reim ist Ginuwine der Ausdruck seiner Lust wert, von textlicher Tiefe gar nicht erst zu sprechen. Die "Blackness" wird auf ein Klischee der sexuellen Körperlichkeit reduziert. Viele schöne Beispiele lassen sich hier anbringen: Mariah Carey bestätigte ihre simple Rolle als Objekt der Begierde, indem sie die Männerwelt dazu aufforderte ihren Body zu touchen, und Joe suchte einfach nur nach den "Good Girls"; versteht sich von selbst, wie die aussehen. Donnell Jones wusste dem Ganzen schließlich nicht viel mehr hinzuzufügen als "You know what's Up". Ja, weiß man Bescheid. Eine saubere Schöpfung der Musikindustrie.
Zuletzt schien sich der Weichspüler sogar selbst abzuschaffen – Rihanna verschrieb sich dem „Dancefloor“ und lässt sich nun elektronische Eurodance-Bretter schneidern, Ushers kürzlich erschienene LP spiegelt seine Schaffenskrise wider (Titel: „Looking 4 Myself“), und R. Kellys Album hat in diesem Jahr kaum einer bemerkt. Doch irgendwie wäre es zu einfach, wenn man es dabei belassen könnte. Denn da kommt dieser 24-jährige Frank Ocean um die Ecke und demonstriert uns mal eben die eigentliche Stärke des R’n’B. Sie muss in dem schweren Pathos, der Eindringlichkeit der Gefühle liegen. Denn Frank Ocean weiß allzu gut darum, sich dieses Pathos zunutze zu machen, um seinen Geschichten Ausdruck zu verleihen. Und er erzählt wahrhaftig Geschichten. Lange ist der R’n’B angetrieben worden von einem Motor der Selbstreferenz – es ging um das Verlangen und die verletzte Seele des Interpreten. Im Fall Frank Ocean sieht das schon anders aus. Der New York Times erzählte er in einem Interview, dass er die Anonymität von Regisseuren beim Film schätze. Er verstehe sich selbst ebenso als Storyteller, der zwar mit seiner Stimme arbeite, letztlich aber nur ein anderes Medium nutze um seine Geschichten zu erzählen. Ein Slick Rick seiner Zeit gewissermaßen.
Auf channel ORANGE scheint er sich in einer Schwebe zwischen eigenen Gefühlen und gesellschaftlicher Beobachtung aus der Vogelperspektive zu befinden. Mit der eingangs erwähnten Ballade „Thinkin Bout You“ startet das Album mit einem tiefen Einblick in die Seele des Sängers. Ein Kampf mit sich selbst, der bildhafter wohl kaum sein könnte. Was folgt, ist der Wechsel in die Perspektive eines jungen Erwachsenen in „Sierra Leone“. Es geht um konträre Seiten der Beziehung – um Liebe, Sex, Schwangerschaft und Trennung. Daher die Benennung nach der afrikanischen Nation, die für ihren Reichtum an Diamanten ebenso bekannt ist wie für ihre brutalen Bürgerkriege.
Im Anschluss an besorgniserregende Milieu-Observationen einer afroamerikanischen Oberschicht, deren Kiddies nach der alltäglichen Liebe im Leben suchen, steuert Ocean gegen Mitte der Platte mit „Crack Rock“ endgültig auf den Blues zu. Aus der Perspektive der zweiten Person führt der Sänger einem Junkie dessen Leben vor Augen: Drogen, korrupte Cops, Waffengewalt und nicht zuletzt der Bruch mit dem Elternhaus – „Your family stopped inviting you to things.“ Man kann davon ausgehen, dass Frank Ocean mit dem Sender HBO aufgewachsen ist. Assoziationen mit Drogenmotiven aus der jüngeren Filmgeschichte (Stichwort „The Wire“) stellen sich bei dieser bildhaften Schilderung jedenfalls unweigerlich ein. Erst die Ballade „Bad Religion“ trägt den Hörer zurück in die persönliche Gefühlswelt des Herrn Ocean und ist gleichzeitig der emotionale Höhepunkt auf channel ORANGE. Was mit „Thinkin Bout You“ begonnen hatte, findet hier seine würdige Weiterführung. Der Crooner nutzt einen muslimischen Taxi-Fahrer als Seelenklempner und erzählt von seiner unerwiderten Liebe. „Allah hu akbar, du brauchst ein Gebet!“ bekommt er als Antwort. Könnte wohl nicht schaden, denkt er sich. Seine Liebe wird zur „Bad Religion“, sie zwingt ihn auf die Knie. Dem Hörer dürfte es bei der geballten Ladung an Emotionalität ähnlich gehen.

Es ist diese Mischung aus persönlichen Einblicken und Observationen seiner Generation, die channel ORANGE inhaltlich so herausstechen lässt. Seine inneren Anliegen spannt Ocean wie einen Bogen um die Gesellschaftsportraits, er macht sie zum äußeren Rahmen der Platte. Frank Ocean reflektiert in seinen Erzählungen – sowohl sich als auch seine Umgebung. Eine Fähigkeit, von der die früheren Barden der Verführung weit entfernt waren. Auch auf musikalischer Ebene scheut sich der Shootingstar nicht, einen Schritt nach vorne zu gehen. Oder sogar zwei.
Die musikalische Untermalung auf channel ORANGE präsentiert sich zunächst angenehm unaufdringlich. Warme, vornehm zurückhaltende Nummern räumen der Stimme Oceans genügend Platz ein – schnell sticht sein synkopischer Gesang heraus. Melodien werden sowohl in den Vocals als auch in der instrumentalen Begleitung selten ganz ausgespielt. Es bleibt stets dieser verführerische Reiz weiter zu hören, bis der Höhepunkt einsetzt – er bleibt meist aus. Gekonnt unaufgeregt führt der Sänger den Hörer durch seine Geschichten, den emotionalen Breakdown weiß er oft zu vermeiden. Glücklicherweise, denn das verhilft ihm zu einer gewissen „Deepness“ und rettet seine pathetischen Arien, die drohen ins unerträglich Kitschige abzudriften. Er hält diese unbeschreibliche Waage zwischen gefühlsüberladenen Balladen und trockenen, unaufgeregten Erzählungen, wie man sie aus dem Rap kennt.
Entsprechend schwer fällt es, die Produktionen einem bestimmten Stil zuzuordnen. Als klassische Soul-Nummern lassen sie sich kaum beschreiben, viel zu viele moderne Produktions-Elemente stechen dafür heraus. Trotzdem schleicht sich immer wieder dieser Vergleich mit Stevie Wonder ein. Vielleicht liegt es an den zahlreichen elektronischen Pianos. Oder an dem Eklektizismus, der channel ORANGE durchzieht. Das 10-minütige Mittelstück „Pyramids“ sticht da exemplarisch heraus: Rhythmisch schwer einzuordnende Samples werden im Intro von rückwärts laufenden Drums begleitet. Eine funky Bassline aus besten Prince-Zeiten kommt dazu. Und auf einmal stampfen da diese schreckhaften Großraumdisko-Synthies rein. Sie lassen Furchtbares erahnen, werden jedoch rechtzeitig von sphärischen, synthetischen Flächen abgelöst, die den Break zwischen zwei Teilen des Stücks bilden. Drum Machine-Loops tragen einen im zweiten Part in die Untiefen der Südstaaten. Passenderweise gibt es einen kleinen Rap-Part von Frank Ocean, eine Lehrstunde in Sachen Zuhälterei. Als er sich wieder auf das Singen besinnt, setzen Vocoder und dubbige Reverbs ein und verleihen seinen Vocals eine leichte Psychedelik. Passenderweise gibt es zum Ende dann noch ein Gitarren-Solo in bester Pink Floyd-Manier obendrauf. Klingt in keinster Weise nach klassischem Motown-Sound, schon klar. Aber solch einen eklektischen Soul fand man zuletzt vielleicht auf „Songs in the Key of Life“. Eine weitere Erinnerung an Stevie Wonder kommt auf: Frank Ocean nutzt eine Handvoll gesampelte Dialoge und Geräuschkulissen aus Filmen, mit denen er thematische Brücken zwischen den Titeln baut. Vielleicht erinnert sich noch jemand an „Living for the City“?

Ähnlich facettenreich wie im Fall der musikalischen Gestaltung verhält es sich mit der schillernden Person Frank Ocean an sich. Wer den Blog des Sängers verfolgt, dürfte mit seiner collagenartigen Selbstinszenierung vertraut sein. Auch auf channel ORANGE kreiert er in gewisser Weise eine Person, die sich irgendwo zwischen Inszenierung und realem persönlichen Innenleben befindet. Exemplarisch dafür auch seine Namensänderung: Der Künstlername Frank Ocean gefiel ihm zuletzt so gut, dass er sich von Christopher Breaux in Christopher Francis Ocean hat umtaufen lassen. Vielleicht ist er sich in Sachen Persönlichkeit noch nicht ganz sicher. Seiner sexuellen Zwiespältigkeit, die vielerorts vermutet und schließlich eine Woche vor LP-Release durch einen legendären Text von Ocean bestätigt wurde, würde das entsprechen. Vielleicht verkörpert Frank Ocean aber auch einfach eine Generation, die mit der konstanten Informationsflut des Internets und dem Sampling als einem selbstverständlichen kreativen Produktionsprozess aufgewachsen ist. Oder haben wir es hier gar nicht mit der Person Frank Ocean zu tun, sondern mit einem cleveren Marketing-Komplott, das Christopher Breaux und Tyler, The Creator sich in ihrer Garage bei einer Flasche Hustensirup haben einfallen lassen? Wir werden es wohl kaum erfahren, ist auch völlig belanglos. Denn seine Geschichten funktionieren. Ganz egal, ob es die eigenen sind oder nicht. Und nebenbei haucht er dem totgeglaubten R’n’B mal eben neues Leben ein. Mehr Geschichten bitte!

 

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