Hier eine interessante Rezension, entstanden im Zusammenhang mit dem Seminar Musikalisches Material und Ästhetischer Wert.
Man stelle sich einen Robert De Niro oder Michael Douglas in der Rolle eines einflussreichen Managers – oder besser noch: als einen Spekulanten, wie im Film „Wallstreet“, vor: ein erfolgreicher Mann, der nach Feierabend in seinem Penthouse mit Panorama-Blick über die blinkenden Reklameschilder und funkelnden Lichter des nachtaktiven New Yorks schaut – eine Szene, in der sich jedoch auch die Einsamkeit widerspiegelt, die ein rücksichtsloser Fulltime-Job mit sich bringt. In der einen Hand ein Glas Scotch, in der anderen das Telefon. Sein geschockter Blick offenbart dem Zuschauer die persönliche Tragödie, die ihn mit der Schreckensnachricht über den Hörer erreicht hat.
Jeder kann sich die Musik vorstellen, die diese Szene begleitet: Ein sanftes Klavier, offene Klänge, gespielt in einer Reduziertheit, die Platz für Gedanken und gleichzeitig eine Denkpause für Emotionen lässt. Der Pianist Ryuichi Sakamoto hat sich diese Art des Spielens zu eigen gemacht. Die stark pentatonisch geprägte Spielweise Sakamotos, wie sie in „Merry Christmas Mr. Lawrence“ zu hören ist, unterscheidet seine Stücke vom klassischen „Nachdenk-Moll“ einfacher Balladen. Sich wiederholende Rhythmusfiguren machen die nach Bar-Piano klingenden Harmonien eingängig und deutlich, wobei die Melodie selbst eine eher untergeordnete Rolle spielt. Es ist der Aufbau, der den Hörer in ein wohltuendes Klangbett sinken lässt - ähnlich dem bekannten Trick des Psychiaters: „Ich zähle bis drei, und dann schlafen Sie tief.“ Sakamoto beginnt mit einer sich wiederholenden Harmonie-Rhythmus-Figur, die immer weiter anschwillt und dabei den Zuhörer stetig tiefer in eine tranceartige Ruhe führt. Hat sich der Herzschlag an die Geschwindigkeit des Stückes angepasst, tut sich eine flächige Melodie auf, die durch ihre wenigen Töne einfache Schönheit offenbart. Bis plötzlich im letzten Drittel des Stückes Bassklänge in Staccato zu hören sind, die an den Anfang der Waldsteinsonaten Beethovens erinnern lassen. Daraufhin endet das Stück mit einer Melodiefigur – dem Hauptthema – in Oktaven gespielt und mit aufwühlender Begleitung in der linken Hand. Ein Mittel der Steigerung zum Schluss, wie es sonst eher im letzten Refrain der Popmusik zu hören ist.
Doch wie nennt man solche Musik? Möglicherweise ist es eine Mischung aus Jazz-Pop-Piano-Musik, die an Elemente von Klassik-Sonaten anknüpft. Doch da in einer Zeit der Stilvermischung musikalische Symbiosen fast alltäglich geworden sind, ist diese Art der Klassifizierung wohl eher unnötig als hilfreich. So sollte man sich doch eher von der Ästhetik der Pianoklänge Sakamotos tragen lassen, als zu versuchen, diese einzuordnen. Denn neu ist diese Art Musik nicht: Auch George Winston spielt das Klavier in ähnlicher Schlichtheit und Offenheit. So besteht die Ästhetik der Musik wohl eher darin, diese zu genießen, als sie nach Innovation und Originalität zu beurteilen. Nein, Sakamoto macht keine besonders verblüffende und neuartige Musik - er macht Musik.
Ryūichi Sakamoto – Merry Christmas, Mr. Lawrence