Die Frage nach ästhetischen Prinzipien führt in diesem Zusammenhang zuerst zum Phänomen der Simulation, zur rationelleren und kostensparenderen Nachbildung herkömmlicher Musik. Vor allem im Kontext audiovisueller Medien wird die verringerte auditive Aufmerksamkeit (noch) zur digitalen Fälschung benutzt. Simulation ist dabei nicht nur eine Technik der Produktionsseite, herkömmlichen Klängen so nahe wie möglich zu kommen, sondern ein Ineinandergreifen von Präsentation des 'als ob' und einer naiven Rezeption. Daß auf der CD der Band XY kein Schlagzeuger, sondern der Sequenzer die Drums spielt, kann künstlerisch und ökonomisch durchaus sinnvoll sein. Tonkonserven sind immer Medienmusik und haben ihre eigene musikalische Realität, selbst wenn sie 'unverfälschte' Live-Mitschnitte sind. Die naive Rezeptionshaltung eines Hörers, der meint, mittels seiner Stereoanlage am Live-Act teilzuhaben, wird nur konsequent fortgesetzt, wenn etwa bei einem Madonna-Hit eine Musik präsentiert wird, die außerhalb des Medienkontextes nicht existieren kann, dies aber implizit vorgibt. Mit Playback-Skandälchen wie Milli Vanilli und der zunehmenden Präsenz medienreflexiver Musik wie Rap, House und Techno wandelt sich allerdings auch die Rezeption, so daß die Hoffnung besteht, daß billige Imitationen auch zunehmend als solche erkannt werden. Der Gewinn dieser Erkenntnis besteht nicht in der Entlarvung einer Täuschung, sondern in einer sehr viel befriedigenderen Einschätzung und Gestaltung musikalischer Kommunikationszusammenhänge. Massenmediale Kommunikation kann als Kulturtechnik nur dann gesellschaftlich produktiv werden, wenn die Zusammenhänge für den den Einzelnen zumindest im Ansatz durschaubar sind. Sonst wandelt sich Simulation sehr schnell zur Manipulation. Der aktuelle "Unplugged"-Boom, der sich plakativ gegen die Mechanismen medialer Vermittlung richtet und auf die Sehnsucht nach unmittelbarer Erfahrung zielt, lebt von einem Scheingegensatz. Eric Clapton und Kraftwerk sitzen im gleichen Boot, nur auf (stilistisch) verschiedenen Bänken.
Rolf Großmann: Konstruktiv(istisch)e Gedanken zur 'Medienmusik'